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AVIVA-BERLIN.de 9/18/5784 - Beitrag vom 04.10.2006


Heimat und Exil
Yvonne de Andrés

Eine unbedingt sehenswerte Ausstellung zu Flucht und erzwungener Emigration deutscher Juden nach 1933 in über neunzig Länder der Erde. Im Jüdischen Museum Berlin zu sehen bis zum 9.04.2007.




Für Michael Blumenthal, Direktor des Jüdischen Museums in Berlin, ist diese Ausstellung eine Herzensangelegenheit. Seit der Eröffnung des Museums arbeitete er an dem Plan, eine detaillierte Darstellung von Flucht, Vertreibung, Emigration und erzwungenem Exil der deutschen Juden nach 1933 möglich zu machen. Nun ist daraus, in Kooperation mit dem Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Wirklichkeit geworden. Zum ersten Mal zeigt das Jüdische Museum Berlin die Geschichte der erzwungenen Emigration von rund 280.000 deutschen Juden in über neunzig Länder der Erde. Es ist eine Geschichte von Verfolgung, Flucht, unterschiedlichen Wegen ins Exil und dem Neuanfang in einer neuen, fremden Welt.

Die Ausstellung erzählt die Geschichte am Beispiel berühmter Persönlichkeiten - z. B. Walter Benjamin - aber auch ganz gewöhnlicher Menschen. So entschloss sich zum Beispiel Judith Bernstein - Jahrgang 1945, in Jerusalem geboren, heute in München lebend - nach dem Tod ihrer Mutter, Unterlagen und Zeugnisse ihrer Eltern und Großeltern dem Museum zur Verfügung zu stellen.
"Ich kenne" sagt sie "keinen anderen Ort, der sich für das Leben der ganz normalen Menschen interessiert. Meine Familie kam aus dem Harz, aus Bleicherode. Dieser Ort war eine große Ausnahme, denn bis 1933 waren hier über vier Prozent der Gesamtbevölkerung Juden. Jüdisches Leben jenseits der großen Städte zu dokumentieren und zugänglich zu machen, ist mir ein wichtiges Anliegen."

Jetzt findet sie die Dokumente ihrer Großeltern und Verwandten - Heiratsurkunden, Zeugnisse - in der Ausstellung und im Katalog. Auf einem Rundgang durch die Ausstellungsräume berichtet sie vom Drama hinter den Dokumenten: "Für meine Familie war das sehr schwierig, denn es war eine sehr assimilierte Familie. Die Tragödie war, dass sie aus dem deutschen Leben ausgestoßen wurde. Meine beiden Großväter Meyer Strauß (geboren 1875) und Leopold Stein (geboren 1890) waren Lehrer in Gelnhausen und in Bleicherode. Sie waren deutsche Patrioten. Meine Mutter und meine Tante sind in Bleicherode geboren."

Ihre Mutter ist - nach gründlicher Vorbereitung bei AHAWAH und Hachshara - 1934 nach Palästina emigriert. Das kahle und sandige Palästina blieb ihr jedoch, im Gegensatz zum Harz, immer fremd. Die Schwester der Mutter ging 1939 nach England. Für die Großeltern Stein, die wegen ihrer Kinder geblieben waren, war es 1939 zu spät. Sie wurden als letzte Juden 1943 von Erfurt aus nach Auschwitz deportiert. Sie gelten als verschollen. Für sie hat Judith Bernstein diesem Jahr in Bleicherode zwei Stolpersteine verlegt.
Die Ausstellung beginnt fast idyllisch. Fotos erzählen von der scheinbar geglückten Assimilation an das christliche deutsche Bürgertum. Deutsche Kultur und Bildungsideale waren ein wesentlicher Bestandteil der Identität deutscher Juden. Die Besucherin dringt dann, von Raum zu Raum und von Dokument zu Dokument immer tiefer in die Geschichte von Verfolgung, Entrechtung und nicht selten auch von Tod ein. Unter dem Druck der Verfolgung fliehen viele deutsche Juden zunächst in die Nachbarländer, doch diese erweisen sich - durch die spätere Besetzung - als nicht wirklich sicher. Zufluchtsorte müssen immer weiter entfernt von der Heimat gesucht werden.

Michael Blumenthal, der Flucht und Exil in Shanghai überlebt hat, erinnert sich bei der Ausstellungseröffnung: "Ich erzähle oft meinen deutschen Bekannten, dass ich in Geographie immer eine Eins hatte, von Anfang an. Bereits als Kind, an einer jüdischen Schule in Deutschland, war ich - im Alter von zehn oder elf Jahren - Experte auf der Landkarte, eben weil das Zuhause das ständige Thema war. Wo kommen wir rein, wo kommen wir hin, was passiert?"

Der erzwungene Weg ins Exil bedeutete den Wechsel in eine neue, häufig genug auch fremde Existenz. Dokumente, Puppen, Fotos, Briefe und die Stimmen von ZeitzeugInnen nehmen die BesucherInnen auf diese unfreiwilligen Weltreisen mit. So hält die Ausstellung die Menschen und ihre Schicksale wenigstens in der Erinnerung wach, die das nationalsozialistische Deutschland gedemütigt, vertrieben und in vielen Fällen auch vernichtet hat. Eine Herzensangelegenheit, nicht nur für Michael Blumenthal.

AVIVA-Tipp: Die Ausstellung übernimmt einen wichtigen Beitrag in der aktuellen Debatte um Flucht und Vertreibung, sie korrigiert und setzt neue Akzente. Unbedingt sehenswert.


Heimat und Exil. Emigration der deutschen Juden nach 1933. Eine Ausstellung des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und des Jüdischen Museums Berlin.
In Berlin zu sehen bis zum 9. April 2007. Danach wandert sie nach Bonn und Leipzig.
Weitere Informationen unter:
www.juedisches-museum-berlin.de



Jüdisches Leben

Beitrag vom 04.10.2006

Yvonne de Andrés